Zusammenfassung
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) mit einer externen Evaluation des Rechtsschutzes und der Entscheidqualität bei der Anwendung des neuen Asylverfahrens beauftragt. Die Evaluation erfolgte im Rahmen des Teilprojekts 2 des Projekts PERU, welches Prozessqualität, Entscheidqualität und Rechtsschutz im Rahmen der Umsetzung des revidierten Asylgesetzes untersuchte. (Das Teilprojekt 1 hat dem gegenüber die Prozessqualität zum Gegenstand).
Die Evaluation des Teilprojekts 2 verlief in zwei Phasen: In der ersten Phase fokussierte die Evaluation auf die Mandatsführung des Rechtsschutzes im erstinstanzlichen Verfahrens. In der zweiten Phase legte die Evaluation den Schwerpunkt auf die Entscheidqualität des SEM und die Analyse von Rechtsschriften des Rechtschutzes. In beiden Phasen analysierte das Evaluationsteam Statistiken des SEM und des BVGer und führte eine Reihe von Interviews mit Akteuren (vor allem mit der Rechtsvertretung [RV]) in den sechs Asylregionen.
Die Analyse der Statistiken des SEM sowie des BVGer zur Umsetzung der neuen Verfahrensbestimmungen über das beschleunigte Verfahren führten zu folgenden Feststellungen:
- Im ersten Jahr nach Einführung des neuen Asylgesetzes wurden mehr als die Hälfte aller neurechtlichen Gesuche im beschleunigten Verfahren entschieden; dem erweiterten Verfahren dagegen wurden nur knapp 20% der Gesuche zugewiesen (ein Anteil von ca. 25-30% der Gesuche entfiel auf das Dublin-Verfahren). Dieser im Vergleich zu den ursprünglichen Annahmen geringe Anteil erweiterter Verfahren wurde im Verlauf des Jahres 2020 korrigiert und beträgt nun etwas mehr als ein Viertel der Verfahren.
- Der Anteil der im beschleunigten Verfahren getroffenen ganz oder teilweise positiven Entscheide ist relativ hoch (in den beiden Jahren ca. 23% bzw. 24% Asylgewährungen und ca. 32% bzw. 44% vorläufige Aufnahmen (v.A.), wobei die Anteile allerdings je nach Herkunftsland sehr variieren). Es zeigte sich somit – entgegen einer verschiedentlich geäusserten Befürchtung – dass auch viele als klar positiv eingeschätzte Fälle im beschleunigten Verfahren behandelt und entschieden werden.
- In der ersten Evaluationsphase (März 2019 – Februar 2020) wurde festgestellt, dass eine besorgniserregend hohe Anzahl von Entscheiden des beschleunigten Verfahrens vom BVGer kassiert wurden (d.h. zur Neuüberprüfung an das SEM zurückgewiesen). In dieser Hinsicht ist eine beachtliche Trendwende eingetreten, indem die Rate der Kassationen von Entscheiden im beschleunigten Verfahren seit anfangs 2020 stark rückläufig ist (je nach Berechnungsmethode des SEM bzw. des BVGer von ca. 18-19% auf ca. 10-11% der angefochtenen Entscheide).
In der Evaluation der Entscheidqualität, welche auf einer Analyse von insgesamt 120 vom SEM im beschleunigten Verfahren behandelten Einzelfalldossiers basiert, zeigten sich in etwa in der Hälfte der Dossiers keine Auffälligkeiten, bei weiteren Dossiers nur kleinere Mängel oder zumindest Fragezeichen. In ungefähr 40 Dossiers ergaben sich indessen Feststellungen, welche für die Beurteilung der Qualität bedeutsam erschienen; teilweise waren dies gravierendere Mängel, insbesondere bei der Sachverhaltsabklärung, ungenügende Würdigung der Stellungnahme zum Entscheidentwurf, Verfahrensmängel, formale Fehler im Dispositiv, unzutreffende Rechtsanwendung, fragliche Praxiskonformität oder Mängel in der Begründungsqualität. VIII
In Anbetracht des im Auftrag festgelegten relativ kleinen «Samples» von Dossiers können die gewonnenen Erkenntnisse nicht Anspruch auf ein gesamthaftes Qualitätszeugnis für das neue Asylverfahren erheben. Ebenso wenig dürfen die zahlenmässigen Relationen der verschiedenen Feststellungen als statistische Aussage betrachtet werden. Dennoch wirft die Auswertung ein Schlaglicht auf die Umsetzung des neuen Verfahrens, welches Hinweise auf relevante Problemfelder, Schwierigkeiten und Verbesserungsmöglichkeiten ermöglicht.
Hervorzuheben sind insbesondere die folgenden Punkte:
- Mängel bei der Sachverhaltsabklärung scheinen in vielen Fällen auf Zeitdruck (bzw. das Bemühen, den Fall möglichst im beschleunigten Verfahren erledigen zu können) zurückzuführen zu sein.
- Der mit dem neuen Recht eingeführte Verfahrensschritt der Stellungnahme zum Entwurf – eine bedeutsame Verbesserung und Konkretisierung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs – wird in der Praxis noch ungenügend umgesetzt.
- Gewisse im ersten Jahr des Inkrafttretens der neuen Bestimmungen aufgetretene Mängel oder «Anfangsschwierigkeiten» sind offenbar zumindest teilweise inzwischen korrigiert worden.
- Die juristische Qualität der Entscheide ist im Allgemeinen zufriedenstellend, abgesehen von einzelnen mit kleineren oder gröberen Mängeln behafteten oder fehlerhaften Entscheiden.
- Die Begründungsqualität ist im Allgemeinen ausreichend, mit einigen Ausnahmen. Es finden sich auch viele gut bis sehr gut begründete Entscheide.
- Bei der internen Qualitätskontrolle gibt es noch Verbesserungspotential. Das «Vier-Augen-Prinzip» wird nicht immer genügend konsequent und genau angewendet.
- Anscheinend gibt es eine Art «Erwartungsdruck», möglichst viele Entscheide im beschleunigten Verfahren zu treffen. Ob dies auf falsch verstandene Zielsetzungen betreffend Fristeinhaltung oder eher auf «Ehrgeiz» oder «Wettbewerbsdenken» der Mitarbeitenden in den Regionen beruht, liess sich nicht abschliessend klären.
Zusammenfassend erachtet das SKMR die Qualität der im beschleunigten Verfahren getroffenen Entscheide des SEM insgesamt gesehen als zufriedenstellend, mit gewissen Einschränkungen.
Die Evaluation des Rechtsschutzes, welche darauf fokussierte, ob die in den sechs Asylregionen mandatierten Leistungserbringerinnen (LE) den Rechtsschutz schweizweit einheitlich und gemäss den wesentlichen Vorgaben umsetzen, führte zu folgenden Feststellungen:
- In allen Regionen erfüllten die befragten RV zum Zeitpunkt der Evaluation die Vorgaben gemäss Asylgesetz.
- Die mit dem Rechtsschutz betrauten LE haben ihre Personalressourcen korrekt geplant. Für den grössten Teil des untersuchten Zeitraums stand eine ausreichende An-zahl von RVs im Vergleich zu den geplanten Verfahrensschritten zur Verfügung.
- Alle LE sind auf prognostizierte Schwankungen der Anzahl der zu vertretenden Asylsuchenden vorbereitet (alle verfügen über ein Schwankungstauglichkeitskonzept). Diesen voraussehbaren Schwankungen fühlen sich LE gewachsen, nicht aber den unvorhersehbaren Schwankungen, die mit der Disposition der Verfahrensschritte verbunden sind.
- Die Rolle der zugewiesenen RV ist in den Regionen unterschiedlich gut geklärt. In den Regionen, wo das Rollenverständnis klar ist, scheint sich dies positiv auf die Zusammenarbeit zwischen dem SEM und den LE auszuwirken.
- Alle LE verfügen über ausreichend Arbeitsmittel.
- Die Mandatsführung der zugewiesenen RV während der Anhörung wird in allen Regionen durch Faktoren, wie das Anhörungsklima, die Dauer von Anhörungen, die Protokollführung während der Anhörung sowie dem Zeitpunkt der Anhörungsvorbereitung und von Beweismitteleingaben beeinflusst. Seitens des SEM besteht insbesondere in Bezug auf die Entgegennahme von Beweismitteln und das Akteneinsichtsrecht bei Anhörungen im erweiterten Verfahren ein Harmonisierungsbedarf zwischen den Regionen.
- Bei der Überprüfung der Beschwerdechancen wird in allen Regionen das Vier-Augen-Prinzip angewendet. Das Kriterium der Aussichtslosigkeit legen die Regionen aber sehr unterschiedlich aus.
- gionen nehmen die LE ihre Verpflichtung zur rechtlichen Vertretung der Asylsuchenden ernst und üben ihren Auftrag sorgfältig aus. In einigen wenigen Fällen hat die RV im Falle eines negativen Entscheids das Mandat zur rechtlichen Vertretung (bei Verzicht auf eine Beschwerde) nicht oder verspätet niedergelegt.
- Die Qualität der Rechtsschriften wird als gut angesehen.
- Bei der Organisation des Rechtsschutzes in den Bundesasylzentren ohne Verfahrensfunktion (BAZ oV) liessen sich in der ersten Evaluationsphase unterschiedliche Modelle erkennen. In gewissen Regionen kam es zu verzögerten Mitteilungen und Aushändigungen von Entscheiden. In der zweiten Evaluationsphase verbesserten die betroffenen Regionen ihre Entscheideröffnungspraxis in den BAZ oV. Dennoch besteht in gewissen Regionen nach wie vor Verbesserungsbedarf hinsichtlich der Präsenz des Rechtsschutzes in den BAZ oV.
- In allen Asylregionen hat sich gezeigt, dass Handwechsel innerhalb des beschleunigten Verfahrens kaum vermeidbar sind. Alle LE sind aber darum bemüht, Handwechsel bei vulnerablen Fällen und bei unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) zu vermeiden, wobei Fristerstreckungsgesuche zur Vermeidung von Handwechseln vom SEM in den Regionen unterschiedlich kulant gehandhabt zu werden scheinen.
- Die Evaluation des Rechtsschutzes und der Entscheidqualität zeigen, dass die Umsetzung des Verfahrensschrittes der Stellungnahme zum Entscheidentwurf in den Regionen unterschiedlich gut gelingt. Während in gewissen Regionen die Stellungnahme zum Entscheidentwurf schon fast «Mini-Beschwerden» darstellen, fallen sie in andern Regionen äusserst kurz aus. Der unterschiedliche Umgang mit der Stellungnahme zum Entscheidentwurf könnte auf ein unterschiedliches Rollenverständnis zurückzuführen sein.
- In allen Regionen überprüfen die fachverantwortlichen Personen (FV) systematisch alle schriftlichen Eingaben der zugewiesenen RV. Nicht institutionalisiert hat sich die Qualitätskontrolle von nichtschriftlichen Verfahrenshandlungen.
- Gegenwärtig ist eine schweizweite Koordination unter den mit dem Rechtsschutz betrauten LE nicht hinreichend gewährleistet.
- Die Übermittlung von Fällen, die dem erweiterten Verfahren zugewiesen wurden, an die kantonalen Rechtsberatungsstellen (RBS) erfolgt uneinheitlich, was bei den kantonalen RBS zu Mehraufwand führen kann.
- Das Thema UMA wurde auftragsgemäss nur in den Regionen NWCH und ZH untersucht. Dabei zeigte sich, dass die Rollen und Aufgaben resp. Verantwortlichkeiten der RV als Vertrauensperson (VP), des SEM und der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) bei dieser besonders vulnerablen Gruppe von Asylsuchenden noch nicht hinreichend geklärt sind. Eine sorgfältige und pflichtgemässe Ausübung der VP-Rolle erfordert einen direkten und niederschwelligen Austausch von Informationen unter den UMA-Schnittstellen (wie Gesundheit, Betreuung, KESB, kantonale VP, SEM, Verwandte, Polizei/Securitas und Schule usw.).
- Die Beratung und die RV arbeiten in allen Asylregionen sehr gut zusammen. Die Aufgaben und Rollen der Beraterinnen und Berater gegenüber den RV sind in der Regel sehr gut definiert. Allerdings gibt es zwischen den Asylregionen Unterschiede hinsichtlich Informationsfluss zwischen der Beratung, dem SEM und den LE, die für die Unterbringung, Betreuung und Gesundheit der Asylsuchenden zuständig sind.
Zusammenfassend bewertet das SKMR die Umsetzung des Rechtsschutzes durch die mit dem Rechtsschutz betrauten LE in den verschiedenen Asylregionen als gut. Unterschiede in der Praxis zwischen den LE könnten durch eine verbesserte interregionale Koordination und durch eine Harmonisierung der Praktiken des SEM behoben werden. Solche Koordinations- (angesprochen sind die LE) und Harmonisierungsbemühungen (durch das SEM) sind für ein rechtsstaatliches Asylverfahren notwendig.