Zur rechtlichen Tragweite der Genfer Flüchtlings­konvention und der Opportunität von Anpassungen

Ausgewählte Aspekte unter Einbezug der Rechtslage in der EU. Gutachten zum Postulat Müller Damian «Anpassung der Flüchtlings­konvention von 1951» Zuhanden des Staats­sekretariates für Migration (SEM), Alberto Achermann unter Mitarbeit von Astrid Epiney

Executive Summary

I. Einleitung: Fragestellung und Aufbau

Die Genfer Flüchtlings­­konvention (GFK) aus dem Jahr 1951 wurde unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges und der Heraus­forderungen für den Schutz der sich auf der Flucht befind­lichen Menschen zu jener Zeit erarbeitet. Ihr kommt heute quasi universale Geltung zu, und zahlreiche ihrer Garantien stellen auch Völker­gewohnheits­recht dar. Allerdings wird immer wieder – und in durchaus unterschied­lichem Zusammenhang – die Frage aufgeworfen, ob die Konvention noch aktuell ist oder nicht vielmehr angepasst, weiter­entwickelt oder ergänzt werden sollte, um den heutigen Gegeben­heiten und Heraus­forderungen Rechnung tragen zu können. Das vor­liegende Gutachten analysiert in diesem Kontext ausgewählte Frage­stellungen zum allfälligen Anpassungs­bedarf der Genfer Flüchtlings­konvention von 1951.
Hintergrund bildet die Annahme des Postulates von Ständerat Damian Müller, 18.3930 «Anpassung der Flüchtlings­konvention von 1951» durch den Ständerat

Das Postulat hat folgenden Wortlaut:
«Der Bundesrat wird beauftragt, einen Prüfbericht im Bereich Asylrecht zu erstellen, um eine Revision der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 in Betracht zu ziehen. Die Konvention ist unserer Zeit anzupassen. Die folgenden Punkte müssen berücksichtigt werden:

  1. Die Flucht­gründe sind dergestalt anzupassen, dass folgende Gründe explizit ausgeschlossen werden: Wirtschaft­liche Gründe, Dienst­verweigerung und Nach­flucht­gründe, die selbst verursacht wurden mit dem Ziel, Asyl zu erhalten.
  2. Integrations- und Verhaltens­forderung im Empfangs­staat und Konse­quenzen bei Nicht­einhaltung dieser Vorschriften (z. B. Verlust des Flüchtlings­status und Wegweisung).
  3. Verbot der freien Wahl des Asyl­staates.
  4. Umgang mit Gefährdern, die in einem Unterzeichner­staat Asyl beantragen.
  5. Ziel des Berichtes ist es, die inter­nationale Gemein­schaft zu ermuntern, die Flüchtlings­konvention zu revidieren. »

Zur Begründung führt der Postulant u.a. aus, angesichts der Migrations­ströme (vor allem aus Afrika) würden Stimmen laut, die die Flüchtlings­konvention für nicht mehr zeitgemäss halten, da diese in einer Epoche mit viel geringeren Migrations­bewegungen entstanden sei. In der Zwischen­zeit hätten jedoch neue Technolo­gien, globale Kommuni­kation und kosten­günstiger Reise­verkehr Wanderungs­bewegungen über grosse Distanzen zu einer realis­tischen Option gemacht. Zudem sei durch Kriege und Bürger­kriege und islam­istischen Terror im Mittleren Osten, in Afrika und Afghanistan neuer Druck auf das Einwanderungssystem entstanden. Die Angewiesen­heit auf Schutz mache das Wesen eines Flüchtlings und seine unmittelbare Hilfsbedürftigkeit aus. Sobald keine Gefahr mehr für Leib und Leben besteht, entfalle die Haupt­voraussetzung, einen Menschen als Flücht­ling zu betrachten. Demzu­folge sollte es gemäss dem Postulaten Ein­schränkungen geben, welche die sekundäre Migration verhindern, vor allem wenn die Wirtschafts­lage ungünstig ist und wenig Perspek­tiven erlaubt. Die Schutzgebote der Genfer Konvention reflektierten eine vergangene Welt. Ihre Gebote gingen teil­­weise über das hinaus, was in einer globali­sierten Welt zu leisten sei, teilweise blieben sie blind für einige der schlimmsten Fluchtursachen, weil die Konven­tion Massen­vernichtungs­waffen und Terror nicht im Blick gehabt habe. Es sei Zeit, die Konvention zu überdenken bzw. zu überarbeiten.

Der Bundesrat wies in seiner Antwort darauf hin, die Konvention von 1951 in der Fassung des Protokolls von 1967 stelle das wichtigste internationale Rechtsinstrument für den Flüchtlingsschutz dar. Die Flüchtlingskonvention werde den aktuellen Anforderungen an einen konsequenten Schutz von verfolgten Personen weiterhin gerecht. Der Bundesrat zeigte sich aber bereit, in einem Bericht die vom Postulanten aufgeworfenen Fragen sowie eng damit zusammenhängende Aspekte zur Anwendung der Flüchtlingskonvention zu prüfen, um aufzeigen zu können, wie die Schweiz den Schutz von Flüchtlingen auch in Zukunft zeitgemäss gewährleisten
könne.

Das vorliegende juristische Gutachten soll vor diesem Hintergrund den Anpassungsbedarf der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 analysieren, dies im Hinblick auf die Erstellung des Berichts des Bundesrates. Dabei geht es in einem ersten Schritt um einen Überblick über die rechtliche Tragweite der Konvention, unter Berücksichtigung ihrer «Lücken» (II.), um auf dieser Grundlage die Anliegen des Zostulats einer Bewertung zu unterziehen (III.). Die Untersuchung schliesst mit einem Fazit, in welcher die Ergebnisse gesamthaft gewürdigt und Empfehlungen für das weitere Vorgehen skizziert werden (IV.).
Angesichts der Vielzahl der vom Postulat angesprochenen Fragestellungen und des begrenzten Umfangs des Gutachtens war allerdings eine umfassende Berücksichtigung des reichhaltigen Schrifttums und der völkerrechtlichen Praxis nicht möglich. Der Hauptfokus des Gutachtens liegt daher in der Beantwortung der konkreten Gutachtensfragen, insbesondere der Beurteilung der Aktualität und Zweckmässigkeit der Genfer Flüchtlingskonvention vor dem Hintergrund der an ihr geäusserten Kritik.

Erstellt wurde das Gutachten im Auftrag des Staatssekretariats für Migration. Inhaltlich handelt es sich um eine unabhängige Untersuchung: Gemäss Auftrag soll das Gutachten anhand einer objektiven Analyse – die Verfasser wurden ausdrücklich um eine unabhängige Klärung der sich stellenden Fragen gebeten – die Fragestellungen des Postulates prüfen und beurteilen und folgende Punkte abhandeln:

  • rechtliche Auswirkungen der Konvention auf das innerstaatliche Recht;
  • Grenzen und Problematik der Konvention (welche Bereiche sind nicht durch die Konvention abgedeckt, wo liegen die Grenzen, was die Konvention leisten kann?);
  • Beurteilung der Anliegen des Postulats: Darlegung der heutigen Regelung in der Konvention, im nationalen Recht sowie gegebenenfalls in ausgewählten repräsentativen europäischen Staaten bzw. im Europäischen Asylrecht, mit einer Würdigung der einzelnen Anliegen;
  • Fazit und Gesamtwürdigung.

Dem Staatssekretariat für Migration, insbesondere Frau Pascale Probst und Frau Nina Hadorn, sei an dieser Stelle für das entgegengebrachte Vertrauen und die ausgesprochen angenehme und konstruktive Zusammenarbeit gedankt. Dank gebührt auch der Begleitgruppe unter der Leitung von Staatssekretär Mario Gattiker für die wertvollen Anregungen und die konstruktive Diskussion der Entwürfe dieses Gutachtens.